Vermehrung

Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe vergessen, dass Suza eine blühende Fantasie hat.  Präsentiert man ihr einen Gegenstand, einen Gedanken oder malt ihr mit Worten ein Bild, was nur annähernd Gelegenheit bietet, ein Thema aufzugreifen, welches in Suzas Augen ein rotes Tuch ist, so gehört die nächste Stunde einem von Suzas abstrusen Monologen. Zum Glück ist es warm in der Limobar. Es ist auch warm vor der Limobar, aber allein die Sternedeko an Huberts Cocktailgläsern lässt schon erahnen, dass bald Weihnachten sein müsste. Die rosa geklonten Glitzerrehe, die ich auf dem Weg in die Bar gekauft und nun verlegen in meinen Händen drehe und die Suzas Anlass zur Rede sind, sollen auch auf das nahende Fest hinweisen. Ich versuche, Suza uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu schenken:
„Verstehst du, was ich meine, Mone? Das ist genauso, wie wenn der Krieg oder ein böser Streit die Liebenden getrennt hat. Jahre später durchschwimmt sie Meere, kämpft gegen Stürme und Drachen, findet mit Hilfe von Hexen heraus, wo die einstige Liebe nun lebt, sticht mit Hinterlist und zurecht die neue Liebe aus und gesteht dann mit großer Geste ihre stets glühende Liebe ein. Schlussendlich fallen sie, sich küssend, im Kugelhagel in den Schützengraben. – Oder? – Denn: Sie hatten Streit, dann haben sie sich getrennt und nichts mehr von einander gehört. Jahre lang. Und dann entschied sie sich, ihre Liebe zurückzugewinnen. Sie fuhr zur Adresse, wo sie einst wohnten, sie klingelte, ihr wurde aufgetan und sie vielen vögelnd, noch immer verliebt ins Bett. – Das ist keine Geschichte!“
Ich sehe Suza seufzend an. Ich bin sehr froh, dass die Glitzerrehe sie nicht auf die Massentierhaltungsthematik gebracht haben – das hätte auch passieren können-, aber dieses Thema hier ist auch mehr als ungewöhnlich: „Suza, du willst mir damit also ernsthaft sagen, dass das Jesuskind niemals in die Geschichte eingegangen wäre, wenn der Stall ein handelsübliches Einfamilienhaus und die Heiligen Drei Könige nicht tausende Kilometer gewandert, sondern die Nachbarn gewesen wären?“
„Genauso sieht das aus!“, bestätigt meine Freundin. Ich will das, warum auch immer, unbedingt widerlegen: „Und was ist damit, dass der Sprössling, der Retter der Menschheit, so nen paar Besonderheiten hatte? Der konnte über Wasser gehen, dann selbiges zu Wein und so – oder umgekehrt … du weißt schon.“
Suza schüttelt den Kopf: „Ja, aber das ist Mumpitz. Noch nicht mal Zauberei. Das ist alles nur Darwin. Hätte er zu der Zeit nicht bereits den Hof oder Jünger oder so gehabt, es wäre doch keinem aufgefallen. … Bei mir zum Beispiel ist das so – habe ich gerade herausgefunden: Meine Waden werden ab und an für ein paar Sekunden richtig warm. Fast heiß. Echt! Die Ärztin hat keine Idee dazu. Aber ich glaube, das ist kein Fehler, keine Krankheit, kein Wunder. Ich bin der Beginn der logischen Weiterentwicklung. Der Motor springt noch nicht richtig an, weil der Winter nicht richtig kalt wird und ich erst der Prototyp bin. Bei meinem Kind wird es so sein, dass es, sobald es Winter wird, automatisch warm bis heiße Gliedmaßen haben wird. Darwin. Eine Generation weiter gibt es dann vielleicht auch die Kühlung im Sommer. Und weißt du was: Da werden keine Drei Könige an die Garage klopfen. Und die Nachbarn werden uns für verrückt halten. Kein großes Brimborium – keine Geschichte. Noch nicht einmal der Sack Reis ist eine Geschichte, wenn es doch keiner mitbekommt!“
Nun mache ich mir wirklich Sorgen, bis ich Suzas Mundwinkel leicht zucken sehe. Erleichtert atme ich einmal kräftig auf: „Oh, holy shit – Du verarscht mich! Und ich hatte schon befürchtet, du seist in den letzten Monaten wirklich irre geworden.“
Suza lacht und trinkt ihr Glas aus. Wir warten.

Auch einige Minuten später kommt Hubert nicht an unseren Tisch. Wir sehen uns an und verstehen uns – widererwarten nach alle den Wochen – blind: Wir stehen auf, gehen zur Theke, und umarmen Hubert simultan. Das gefällt ihm. Er giggelt. Wir entschuldigen uns leise für unsere lange Abwesenheit. Er nickt wohlwollend und schickt uns zurück an unseren Tisch. Während er uns das nächste Doppel-Getränk mixt, frage ich noch einmal nach: „Das ist wirklich Unsinn mit deiner Wade, oder?“
Suza zuckt mir den Schultern:“ Wer weiß … “ Sie lächelt und fährt fort: „Aber mal ernsthaft. Weiß du woran mich dein neuer Weihnachtsschmuck wirklich erinnert: … an Massentierhaltung! Lass uns darüber reden.“
Mein Kopf sinkt resignierend auf meine verschränkten Arme, auf den hölzernen Tisch. Halleluja.

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