Vorbei

Ich sitze an einem Tisch in der Limobar. Ich habe einen Platz gewählt, von dem aus ich die Theke und Hubert sehen kann und die Tür. Ab und an kommen neue Gäste herein und schütteln sich den Regen von den Jacken. Ich bin alleine. Mone ist nicht da. Ich fühle mich unendlich allein. Einsam. Meine Seele ist so wolkenverhangen wie der Himmel draußen. Als könne Hubert in mich hineinsehen, kommt er zu mir an den Tisch und setzt sich. Das Mitleid in seinem Blick hüllt mich in einen warmen, imaginären Mantel.

„Eine Person zu vermissen ist die Art, wie dein Herz sagt, dass du sie liebst“, sagt er und sieht mir tief in die Augen. Ich bin überrascht. So einen Satz aus seinem Munde hatte ich nicht erwartet. Aber wenn wir schon so herzoffen sprechen, bin ich ehrlich:
„Hubert, ich bin müde. Ich bin so wahnsinnig erschöpft. Ich habe kaum noch Kraft, den Knopf an der Kaffeemaschine zu drücken, da hat mir das jetzt gerade noch gefehlt.“
Hubert erwidert prompt: „Aber du bist nicht faul, unmotiviert oder steckengeblieben. Nach Jahren im Überlebensmodus bist du logischerweise erschöpft. Das ist der Unterschied.“
Ich nicke und blicke auf mein Handy.
„Und ich bin wütend. Aber solange ich so wütend bin, ist Hoffnung da. Solange es Tränen und Worte und Bedeutsamkeit gibt, solange ist da Zugewandtheit. Wenn ich erst einmal still werde, existieren meine Bemühungen nicht mehr. Genauso wenig wie ihr Platz in meinem Leben!“
Ich schmeiße das Handy auf den Tisch, um es gleich noch einmal anzuheben, um zu sehen, ob nun ein Sprung im Display ist. Ist nicht. Hubert schaut nun auch kurz auf sein Handy.
„Löse dich von dem Gedanken, immer kämpfen zu müssen. Denn was gut ist, und zu dir gehört, bleibt. Was bei dir sein will, kommt freiwillig. Und was gehen will, geht sowieso. Es ist an der Zeit, die gehen zu lassen, die nicht bereit für dich ist und auf die zu warten, die dir jeden Tag aufs Neue den Atem raubt.“
Nun sehe ich Hubert mit leichter Bewunderung an. Das war eine lange Weisheit.
„Ja, und wer das Gefäß mit dem Label Selbstliebe nicht in sich trägt, kann sich auch nicht mit Liebe von außen füllen. Oder wie auch immer das heißt“, fällt mir dazu nur ein.
Hubert schaut skeptisch. Vielleicht ist er davon nicht überzeugt.
Er geht aber nicht darauf ein und sagt stattdessen: „Ich weiß. Sie wird nicht der Song sein, zu dem du tanzt, aber sie ist der Songtext, den du nicht aus deinem Kopf bekommst.“
Beeindruckend, aber nicht ganz richtig, denke ich: „Ich bin hoffentlich der Songtext, den SIE nicht aus dem Kopf bekommt!“
Hubert nickt. Dann deutet er zur Theke. Dort warten Gäste. Und während er aufsteht und geht, wirft er mir noch die folgenden Worte zu:
„Es ist nichts befreiender als zu wissen, wer man ist und sich stets so zu geben. Manchmal gibt es nichts mehr zu sagen, keine Energie mehr zu verschwenden. Also lass es. Abwesenheit ist manchmal genau der richtige Weg, Leuten zu zeigen, wo du stehst.“

Irgendwie ist meine Stimmung nun nur bedingt besser, auch wenn ich es zu schätzen weiß, dass Hubert mir seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ich denke darüber nach, ob ich vermisse, was wir waren, oder das, was wir sein wollten. Ich schaue wieder auf mein Handy, als ich im Augenwinkel bemerke, dass sich die Tür öffnet und Mone die Limobar betritt. Sie hastet an meinen Tisch und setzt sich. Die Regentropfen fallen von ihrer Jacke und fallen auf den Boden wie träge Miniatur-Sandsäcke auf einen Wall. Ich starre sie an.
„Es tut mir Leid“, sagt sie dann reumütig.
„Im hohen Maße unabhängig zu sein, ist ein Abwehrmechanismus, der entsteht, wenn man ständig im Stich gelassen wird.“
Mone sieht mich mit großen Augen an. Aus der Leere darin entwickelt sich langsam offenbar Verständnis. Sie schaut auf ihr Handy, legt es dann weg und antwortet:
„Wenn du jemanden liebst, dann liebst du die Person für das, was sie ist und nicht für das, was du in ihr gerne hättest. Ich habe so sehr versucht, die zu sein, die du gerne hättest, dass ich vergessen habe, wer ich bin!“
Das ist eine starke Eröffnung, denke ich. Das kann ich kontern:
„Die Frau in mir kann dich in Anmut loslassen. Aber das Tier in mir hat gebrüllt und meine Haut zerrissen.“
Mone stellt den Kopf schief: „Bist du sicher, dass das die richtige Übersetzung ist?“
Ich zucke mit den Schultern. „Mone, du bist 40 Minuten zu spät.“
„Ich weiß“, sagt sie. „Es ging nicht anders.“ Dann macht sie eine kleine Pause bevor sie bedeutungsschwanger sagt: „Ich kann nicht einfach mit dir locker befreundet sein. Denn wenn ich in deine Augen sehe, dann sehe ich die Momente darin, die wir geteilt haben. Ich kann nicht in die Augen sehen, in denen ich unsere Zukunft gesehen habe und so tun, als sei es nicht so.“

Ich schweige müde und blicke auf das leere Glas vor mir. Als es ausgetauscht wird, sehe ich auf und Hubert ins Gesicht, der zu den Getränken noch eine Alexa auf den Tisch stellt:
„Ich habe sie mal ausgestellt. Vielleicht kriegen wir dann nicht mehr so viele Trennungsweisheiten in unseren Facebookverlauf geballert, seitdem wir über Berts Trennung gesprochen haben.“
Mone und ich nicken wohlwollend lächelnd. Wir stoßen an und Mone fragt:
„Was macht deine Erschöpfung? Kann ich was tun?“
„Du tust schon genug, wenn du einfach nur da bist.“ In Mones Lächeln kann ich sehen, dass sie froh ist, dass ich ihr nicht böse bin. Wie könnte ich auch …

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