Große Kleinigkeiten

Große Kleinigkeiten

Nahezu entsetzt starre ich auf Mones Hände, die die meinen halten. Wir sitzen in alter Tradition und wie sehr lange schon nicht mehr an einem Tisch in der Limobar, während Hubert so tut, als poliere er Gläser.
Zwei Dinge sprechen für Mones Verhalten. Die Pandemie samt Kontaktbeschränkungen ist längst vorbei. Und ich habe sehr schöne und weiche Hände. Zwei Dinge sprechen dagegen: Valentinstag ist auch vorbei und wir wollen ja nicht versehentlich noch Lesben werden.

Also gebe ich ihrem flehend bittenden Blick nach und frage:
„Ja bitte?“
Mone antwortet umgehend: „Ich habe große Neuigkeiten!“
„Mone, raus damit!“, ist meine Antwort. „Wir haben uns ja ewig nicht gesprochen.“
Ja, ich hatte ja auch keine Zeit“, erklärt Mone.
„Warum eigentlich nicht?“, frage ich.

„Ich habe gearbeitet.“ Das sind nicht unbedingt Neuigkeiten, denn das tuen wir schließlich alle ständig irgendwie. Ich ergänze mein blödes Fragezeichengesicht mit einem Schulterzucken. Und Mone fährt fort: „Ich habe an der Liebe gearbeitet und lerne jetzt Beziehung.“
„Aha“, sage ich schnippisch. „Bringt es dir endlich jemand bei? Online oder in Präsenz? “
Und sofort ist meine Neugierde unermesslich, einen Namen zur Liebesnachricht zu bekommen. Aber Mone lässt mich nicht fragen. Sie lässt stattdessen kurz meine Hände los, um die Pfeffermühle über den Käsetacos einzusetzen, die Hubert neuerdings im Angebot hat. Wie man unprobiert direkt nachwürzen kann, ist mir ein Rätsel, aber gut.
Mone redet mehr zu sich als zu mir: „Also, wenn ich mein Herz erst vergebe, dann merke ich nicht, wie schnell ich mich klein machen lasse. Ich sage mir dann lieber: Ok, ich ändere das, statt: Ja, das gehört zu mir. So schlimm ist das nicht!“
Das Argument mag bei mir nicht so recht ankommen, denn: „Und dann spiegeln dich deine Freunde doch eh und sagen dir so oft du willst, dass du in allem schwer in Ordnung bist. Weil es so ist.“ Dabei sehe ich Mone tief in die Augen und Hubert auf uns, weil er augenscheinlich auf den ersten Kuss oder so etwas wartet und ich wende den Blick wieder ab.
„Schon“, sagt Mone. „Aber ich habe herausgefunden, dass ich ein paar Eigenschaften von mir ganz gruselig finde, die meine Freunde jetzt nicht so direkt mitbekommen. Wenn du weißt, was ich meine.“
Ich weiß nicht, was sie meint. Ich frage nach: „Ok. Und was machst du jetzt damit?“
„Ich habe beschlossen, sie bedingungslos zu akzeptieren. Die Eigenschaften. Denn ich komme zu dem Schluss, dass Liebe so nur funktionieren kann. Wenn du liebst, dann zählen die ganzen vermeintlich schrägen Kleinigkeiten nicht mehr. Sie wiegen nicht schwer. Oder sogar gar nichts. Flügelschlagleicht sind sie.“
Ich denke kurz nach und bin ganz bei Mone, immer noch ohne zu wissen, was sie genau meint. Zumindest habe ich noch kein Paar getroffen, bei dem ein falscher Blick am Morgen zur Trennung geführt hätte, kommt es mir in den Sinn.
Mone greift erneut meine Hände und ruft zu Hubert hinüber: „Hubert, weißt du, was ich meine?“ Hubert lässt überrascht sein Handtuch fallen. Er nickt und dreht dabei seinen Ehering. Auf seinen Lippen ist ein glückliches Lächeln nicht zu übersehen. „Jamann!“, murmelt er eher zu sich als zu uns.
Meine Ungeduld findet nun ein jähes Ende und es platzt aus mir heraus:
„So! Genug jetzt. Wie heißt er?“
„Wieso er?“, fragt Mone.
„Sie?“ ist meine Gegenfrage. „Du hast eine Beziehung mit einer Frau? Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen.“
Mone streichelt lächelnd über meine Fingerknöchel: „Ja. Im Prinzip ‚sie‘.“ Dann schweigt meine Freundin in einer dramaturgisch wertvollen Pause, bevor sie ergänzt:
„‚Sie‘. Die Selbstliebe. Daran arbeite ich. Denn wenn du dich selbst nicht liebst, dann kannst du auch keinen anderen lieben. Im Leben nicht. “
Diese Weisheit kommt mir banal vor und dennoch habe ich den Verdacht, dass sie nun nicht ganz unbedeutend im Raum steht. Ich richte meine Gedanken auf mich und stelle fest:
„Ja. Das ist wohl so. Gut, dass ich mich in all meinen Facetten, bis zu den kleinsten Kleinigkeiten, großartig finde.“ Und ich füge lautstark hinzu und mache es öffentlich: „Falls das jemand jemals anzweifeln sollte?!“
Hubert hebt zurückweisend die Hände und Mone schmunzelt: „Genau. Du bist unfassbar liebenswert in all den großen Kleinigkeiten. Sie machen dich zu dem, was du bist. Und ich werde dich auch weiterhin lieben, selbst wenn du in die ausgeliehenen Bücher zigtausend Eselsohren mehr machst!“
Ich lehne mich über den Tisch und gebe Mone spontan einen Kuss auf die Nasenspitze. Hubert schaltet die Musik ein. Mone akzeptiert mich so wie ich bin und das tut gut. Es ist ein Wohlgefühl, das ich lange nicht mehr so empfunden habe, denn ständig mäkelt jeder an jedem anderen rum. Ich bin Mone für den Moment unendlich dankbar und sage ihr das auch. Also zumindest so ähnlich: „Stimmt. Du hast an deiner Selbstliebe gearbeitet. Sonst könntest du mich schließlich nicht so lieben!“
Mone verdreht die Augen und lächelt: „So ist das. Leben und leben lassen. Und deswegen werde ich auch ohne schlechtes Gewissen mein Essen weiter pfeffern, ohne es vorher probiert zu haben. Auch wenn du das hasst.“

Mone lässt meine Hände los, der romantische Moment ist verstrichen. „Zum Glück ist Valentinstag vorbei!“, stelle ich fest und Mone ergänzt: „Ja. Endlich ist der Blick auf die Liebe nicht mehr so verklärt, sondern wieder sachlich.“ Sie wendet sich an Hubert: „Liebelein, bring uns drei Doppelte, wir trinken auf die Liebe!“ Das lässt sich Hubert nicht zweimal sagen. Im Hintergrund schmettert Cher voller Inbrunst „Cause I’m strong enough“.

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