Hubert ist betrübt. Er reicht mir zwei Gläser blutroten Tomatensaft mit Pfeffer und als ich ihm sage: „Das war verdammt knapp, was?!“, verengen sich seine Augenschlitze und sein Blick soll wohl töten. „Tut mir leid“, schiebe ich schnell hinterher, als ich mich entferne und zu Suza hinübergehe. Wir wollen Hubert unterstützen, denn er hatte sich so gefreut, dass er den Biergartenbereich hätte öffnen dürfen, wenn nicht kurz vorher der Inzidenzwert von über 100, also 100 Corona-Infizierte pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen, überschritten worden wäre. Und somit die Notbremse gezogen wurde. „Inzidenzwert … ein Begriff, den jeder Grundschüler erklären kann dieser Tage …
Ich wünsche mir eine Erklärung für dieses Hin und Her an Bestimmungen in der Pandemie, das mittlerweile kein Mensch mehr überblicken kann. Als ich 50 Schritte gegangen bin, hänge ich noch mal 25 dran, weil ich kurze Beine habe. So bin ich sicher, dass ich den, von der Regierung geforderten, Mindestabstand zur Ausgabestelle von Getränken einhalte. Ich überlege, ob dieser Tomatensaft in meinen beiden Händen tatsächlich das Gefühl von Urlaub und Im-Flieger-sitzen simulieren kann.
Suza hat ihre Jacke ausgezogen. Langsam wird es Frühling und das haben die Temperaturen jetzt auch verstanden. Ich schaue kurz auf ihre Arme:
„Du musst das echt lassen mit den Drogen, Schatz! Das ist nicht gut für die Haut. Das vernarbt doch alles.“
Suza grinst hämisch. Sie nimmt ein Glas und einen tiefen Schluck Tomatensaft, bevor sie spricht:
„Ernsthaft, ich wusste, dass das nicht gut geht. In dem Moment, als die Frau auf mich zukam. Kennst du diese Frauen, gesetzteren Alters, Bauch- und Brustumfang identisch und darunter spilledürre Beine? So Frauen heißen irgendetwas mit ‚…mann‘. Ich nenne sie mal ‚Poschmann‘. Sie spricht mit der Frau neben mir, weil sie wohl irgendetwas mit ihr gemein hat. Nebenbei fordert sie mich auf, in der Liege so weit wie möglich nach hinten zu rücken. Was ich schon getan hatte. Dann fragt sie nach meinem Vornamen, den ich ihr nenne. Sie unterhält sich also weiter mit der Frau. So: ‚Ich weiß, ich werde gebraucht. Ich weiß, ich mache hier einen guten Job. Das weiß ich. Ich brauche da auch nicht jeden Tag Lob für. Die Politik verspricht Dinge und hält sie nicht. 2025 bin ich dann raus!‘ … Ich denke: ‚Frau Poschmann, sie sind eine von denen, die über zu viel Routine nachlässig geworden sind. Das geht nicht gut!‘ Kennste?“
Ich antworte: „Ja, geht mir auch so. Beim Zähneputzen.“ Suza nickt, ohne zugehört zu haben.
„Und dann fragt sie mich erneut nach meinem Vornamen. Ich überlege, ob ich einfach aufstehen und gehen soll. Doch dann wendet sich Frau Poschmann endlich mir zu, um mich erneut darauf hinzuweisen, dass ich ganz nach hinten rücken soll. Ich möchte ihr gerne antworten: ‚Wenn ich noch mehr nach hinten rücke, sitze ich hinter der Liege und die Liege auf mir drauf.‘ Ich sage aber nichts. Ich habe ein wenig Respekt vor dem, von dem ich weiß, dass es jetzt kommen wird. Frau Poschmann setzt die Nadel an … und … trifft nicht. Den Arm schon, die Vene nicht. Also vielleicht schon, aber es fühlt sich so an, als ob die Nadel hinten wieder rauskommt. Aus der Vene. Immerhin nicht aus dem Arm. Und dann sagt sie: ‚Ne, da fließt nichts. Das dauert bis Ostern so. Das kommt, wenn sich die Leute nicht weit genug zurücksetzen. Oder bei muskulösen Männern, dann blockieren die Armmuskeln den Blutfluss.'“
Jetzt muss ich lachen. Da kenne ich Suza gut genug, dass sie das jetzt nicht als Kompliment aufgefasst hat. Sie fährt mit ihrem Bericht fort:
„‚Gut‘, sage ich ‚Jetzt ist ja Null negativ der heiße Scheiß … Nehmen Sie den anderen Arm!‘ Und plötzlich funkeln Frau Poschmanns Augen: ‚Ja! Goldeselblut!‘ Kurz befürchte ich, dass sie mir den Gollum gibt: ‚Mein Schaaaatz …‘ Tut sie nicht, aber in dem Moment, mit dem sabbernden Grinsen, weiß ich, wem Frau Poschmann ähnelt, vermutlich sogar dem Zeichner Modell saß: Dem runden, feisten Blutplättchen mit dem Grinsen und den Vampirzähnen, das der Einrichtung hier als Maskottchen dient.
Während Frau Poschmann also die Unterlagen für den anderen Arm vorbereitet, sehe ich, wie eine andere Blutsschwester in Weiß unzählige Pakete in ein Regal räumt. Ich frage mich, was das ist und warum es in einem so großen Umfang gebraucht wird. Kurze Zeit später bringt mir mein Vampir eine Packung mit: ‚Zur Behandlung von akuten Schwellungszuständen und nach stumpfen Verletzungen.‘
Frau Poschmann bereitet dann meinen rechten Arm vor und fragt mich zunächst nach meinem Vornamen. Ich seufze. Ich meine, ich hab‘ ja nur zwei Arme. An meine Halsvene lasse ich sie nicht!“
„Und?“, frage ich neugierig.
„Joahh … das ging dann gut“, antwortet Suza und hält mir ihre zwei zerstochenen und blauen Armbeugen vor das Gesicht.
Ihre Geschichte ist noch nicht zuende:
„Als ich dann rausgegangen bin, stolpere ich fast über eine Frau mit zwei Möpsen und überlege kurz, ob ich doppelt sehe. Hab ich aber nicht. Ehrlich, warum schafft man sich zwei komplett gleich schwarze Hunde an und spaziert dann an Orten, wo sich sinnesgetrübte Spender tummeln? Naja …
Vor der Blutspendezentrale steht dann ein Leichenwagen. Ich nehme aber mein Fahrrad und jetzt bin ich hier und trinke mit dir Tomatensaft …“
„So ist das wohl“, erwidere ich. „Und? Gehst du wieder hin?“
„Klar!“, sagt Suza freudig. „Ich habe eine Salbe geschenkt bekommen. Und Gummibärchen!“
„Hm“, mache ich. „Stimmt. Man sollte auch nicht immer von der Momentaufnahme auf das Große und Ganze schließen. Nimmst du mich nächstes Mal mit?“
„Natürlich“, sagt Suza und wir stoßen an. Aber Urlaubsgefühle wollen sich nicht so richtig einstellen.