Höchste Zeit

Meines Rades Räder rattern leise auf dem Kopfsteinpflaster, als ich wacker in die Pedalen trete, um heute pünktlich zu sein. Irgendetwas ist anders als sonst in der Stadt. Das war mir schon in den vergangenen Tagen, eigentlich Wochen, aufgefallen, aber ich habe noch nicht heraus finden können was es ist. Es nieselt ein wenig und die Regentropfen auf meiner Brille vermehren sich ganz unerwünscht. Ich überlege kurz, ob ich etwas langsamer fahren sollte, aber wenn ich noch mal zu spät zu Suza in die Limobar komme, macht sie sich wieder lustig und wirft mir vor, sie sei mir nicht wichtig genug, um pünktlich zu sein. Plötzlich muss ich voll in die Eisen steigen beziehungsweise greifen. Die Bremshebel berühren die Handgriffe und das Rad bleibt quietschend stehen. Vor mir hat ein Mann mit langem roten Mantel und Narrenkappe die Straße betreten und glaubt wohl, ich wollte just eh an genau dieser Stelle eine Vollbremsung machen – nur mal so – , denn er ignoriert mich einfach weg und trottet weiter seines Weges. Ich ärgere mich maßlos, als ich neu anfahre, um die verlorenen Sekunden wieder einzuholen, fluche leise und habe zu allem Unglück jetzt auch noch, dank des roten Mantels, „Sankt Martin“ als Ohrwurm im Kopf. Kaum zwei Minuten später versperrt eine Gruppe im Einheitslook die Straße. Die Männer wie Frauen dieser Gruppierung tragen grüne Knickerbocker über gelb und rosa geringelten Kniestrümpfen. Kitschig bunte Hawaiihemden kleiden ihre Oberkörper und blondgelockte Perücken, sowie eine Flasche Sekt in der Hand runden das Outfit ab. Da komm ich jetzt nicht durch, also beschließe ich, auf den Bürgersteig auszuweichen. Bürger bin ich und solange ich es nicht Fußgängerweg nenne, werde ich dort ja wohl mal kurz radeln dürfen.  Der Plan geht auf. Bis ich einen Juden überfahre. Das nervt mich jetzt, allein schon deshalb, weil ich mir angewöhnt habe, zu gucken, wie der Jude hieß, wenn ich schon auf ihn drauf trete oder überfahren habe. Das kostet wieder Zeit. Ich halte also an und schiebe mein Fahrrad ein paar Meter zurück. Dieses Mal habe ich Paula und Sally Grünberg erwischt. Das tut mir wirklich Leid, ich komme mir sehr respektlos vor, allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass es nicht meine Idee war, diese Stolpersteine, diese kleinen, dumpf strahlenden Messingplatten auf den Gehwegen zu verlegen, statt sie an die Häuser zu tackern. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich fast einen treuen Husar überfahren. Das war mir schon unangenehm, da er ja auf der einen Seite wirklich ein Guter und eben Treuer sein soll und auf der anderen Seite der Sage nach gerade sein Mädel an den Tod verloren hat. Schicksal genug, der braucht nicht noch nen Unfall mit Rad, wenn um Karneval herum wohl aber ein verzeihbarer Vorfall. Dass man in dieser Domstadt aber ganzjährig, wie unabsichtlich über tote Juden läuft, daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Ausgerechnet arme Juden. Ich schwinge mich wieder auf den Drahtesel und lasse mein schlechtes Gewissen am Ort des Geschehens zurück. Wie durch ein Wunder taucht vor mir nun auch endlich ein anständiger Radweg auf und jetzt kann ich richtig Gas geben. Der Fahrtwind treibt mir die Regentropfen von der Brille und plötzlich passiert es doch. Meine Vollbremsung ist umsonst, ich rase in eine Frau, die, mit ihrer Freundin shakernd, unachtsam auf den Radweg springt. Meine Hand klemmt sich zwischen meinem Fahrradgriff und ihrem Busen ein. Glücklicherweise tut es nicht weh, zumindest mir nicht, denn die Frau hat eine überdimensionale Oberweite. Bevor ich sie anschreie, betrachte ich ihr Outfit: sie könnte ein Ableger der Knickerbockergruppierung von eben sein. Farben und Muster, die auf den ersten Blick nicht zusammen passen wollen. Auf den zweiten auch nicht. Allerdings trägt sie keine Perücke, ihr Eigenhaar sieht naturgemäß aus wie diese Engelslocken nach Fönunfall. Dann schreie ich halt einen Clown in Zivil an, mir egal. Das erste Wort formt sich auf meinen Lippen, als sie mich jäh unterbricht und sich entschuldigt. Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Mein schlechtes Gewissen holt mich wieder ein und ich verstehe: So wie ich in den Wald hineinrufe, so schallt es heraus. In aller Höflichkeit entschuldige ich mich ebenfalls und will noch einen drauf setzen, indem ich ihr ein Kompliment für ihr wunderbares Kostüm mache. Sie sieht mich fragend an und sagt: „Das ist kein Kostüm.“ Ups, peinlich. Schnell in die Pedale getreten und weg.

Ich müsste noch so fast gerade in der Zeit sein, als ich in der Limobar aufschlage und eröffne vorsichtshalber aber sofort mit meiner Interessensbekundung: „Suza, wie geht es der Katze?“ Suza lächelt: „Wenn ich schlafen will, will sie wach sein, wenn ich arbeiten will, will sie auf meiner Tastatur schlafen und wenn ich Besuch habe, maunzt sie so herzzerreißend, als wolle sie sagen, dass sie unbedingt sofort aus ihrer unmöglichen Situation mit mir gerettet werden muss.“ Ich erwidere mich setzend: „Na, da können wir aber wenigstens sicher sein, dass du wirklich eine Katze im Tierheim gegriffen hast und nicht aus Versehen einen Welpen!“ Suza nickt und als ich mein Handy aus der Manteltasche holen will, um zu sehen wie spät ich wirklich bin, greife ich etwas, was sich nicht annähernd wie mein Telefon anfühlt. Es ist weich und flauschig und zusammenknuffbar. Ich ziehe es heraus und habe keine Idee, wie das in meine Tasche gekommen ist: es ist eine Clownsnase. Jetzt wird mir klar, was mir die ganze Zeit komisch vorkam. Alle sind langsam in Karnevalsstimmung, sind locker und lustig, jeck und gnädig statt verbittert genervt. Ich muss laut lachen und setze mir die Nase auf. Suza sieht mich fragend an. Ich sage: „Jetzt bin ich auch bereit!“

Hubert wirft spontan ein paar Konfetti in die Luft und schreit herüber: “Mädels?! Jetzt ‘nen Doppelten?” Wir rufen wie aus einem Munde zurück: “Nein danke, Hubert! So schlimm ist es noch nicht!”

 

 

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